Forscherinnen und Forscher bei Google stellen sich berufsbedingt regelmässig die Frage, wie Kaufentscheidungen zustande kommen. Für Google bedeuten Erkenntnisse in dieser Frage mehr Werbeumsatz, was nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle des Suchmaschinenprimus ist. Im Herbst 2020 brachte Google eine umfassende Studie heraus, welche sich dieser Fragestellung widmete.
The Messy Middle
Entscheidungsfindung ist von aussen gesehen immer eine chaotische Angelegenheit, in der zahlreiche Optionen geprüft, verworfen oder weiterverfolgt werden. Die Entscheidungsphase vor dem Kauf nennen die Google-Forschenden daher «The Messy Middle». Es gibt dort einen Überfluss an Informationen und unbegrenzte Auswahl. Käuferinnen und Käufer haben gelernt, sich anhand verschiedener, erfahrungsbasierter Abkürzungen zurechtzufinden.
Im «Messy Middle» gibt es zwei Zustände: einerseits den Zustand der Recherche und andererseits den Zustand der Evaluation. Die beiden Zustände sind nebeneinander angeordnet und bilden symbolisch eine liegende Acht, das Symbol für Unendlichkeit:
Häufig wechseln Konsumentinnen und Konsumenten bei Entscheidungen mehrfach zwischen den beiden Zuständen ab. Sie nehmen neue Produkte oder Marken in ihre Auswahl auf oder trennen sich von Produkten oder Marken aus ihrer Auswahl, bis sie sich für ein Produkt entscheiden. Auf die Entscheidung wirken immer frühere Erfahrungen ein, die Konsumentinnen und Konsumenten mit Marken und Unternehmen gemacht haben.
Gefühlt unendlich ist der Wechsel zwischen Recherche und Evaluation in Momenten, in denen es mehrere starke, dominierende Marken gibt, welche ähnlich positioniert sind. Vor Autokäufen kann es vorkommen, dass innert 3 Monaten bis zu 900 Touchpoints besucht werden.

Google-Studie «Decoding Decisions»
2020 brachte Google eine Studie heraus, in der das Verhalten von Konsumenten während der Kaufentscheidung im Onlineshopping in über 310'000 Simulationen weltweit beobachtet wurde. Konsumenten agieren bei Entscheidungen häufig irrational und lassen sich durch verhaltensökonomische Verzerrungen beeinflussen. Die Studie umfasst knapp 100 Seiten.
Geradlinig zum Kauf
Sehr geradlinig bewegt sich der Weg zwischen Trigger und Kauf hingegen, wenn es bekannte, gut positionierte Marken gibt, welche ihren Kundinnen und Kunden eine herausragende Erfahrung bieten und dafür geschätzt werden.
Das Ziel in der Markenpositionierung ist daher, positive Erfahrungen bei der Kundschaft zu ermöglichen, um den Durchgang von Recherche und Evaluation auf ein Minimum zu reduzieren. Konsumentinnen und Konsumenten können auf der Suche nach dem für sie besten Produkt nicht bei jeder ihrer Kaufentscheidungen den gleichen Aufwand betreiben. Daher sind sie froh, wenn sie auf frühere Markenerfahrungen und sichere Werte zurückgreifen und so den Entscheidungsprozess abkürzen können.
Marke umfasst nicht nur Marketing, sondern die Summe aller Erfahrungen über alle Touchpoints hinweg sowie die Werte, die hinter einer Marke stehen. Und haben Menschen mit Marken mehrfach gute Erfahrungen gemacht, braucht es mehr als Kommunikation oder eine schlechte Erfahrung, um dieses Vertrauen zu zerstören. Nehmen wir Volkswagen: Trotz sehr kostspieligem Jahrhundertskandal hat das Vertrauen in ihre Fahrzeuge nach dem Dieselskandal nur wenig abgenommen. Ein VW läuft und läuft und läuft weiterhin zuverlässig und unglaublich lange, was nicht allen Fahrzeugen anderer Automarken attestiert wird. VW gehört auch heute noch zu den vertrauensvollsten Automarken (siehe Box unten).
Risiken übertrumpfen Chancen
Menschen verhalten sich in Entscheidungssituationen irrational und gewichten Verluste höher als Gewinne, wie die beiden Verhaltensökonomen Daniel Kahneman und Amos Tversky 1979 herausfanden. Menschen bauen über die Zeit mit jeder positiven Erfahrung Vertrauen zu Marken auf. Dieses Vertrauen hilft uns bei jeder folgenden Kaufentscheidung, einen für uns guten Kauf zu machen. Bei der Entscheidung wählen wir Marke A nicht, weil sie besser als Marke B ist. Wir wählen Marke A, weil wir sicherer sind, dass sie gut ist (in Anlehnung an Rory Sutherland in seinem 2019 publizierten Buch «Alchemy – The Suprising Power of Ideas That Don’t Make Sense»).
Das gute Angebot beim Mobilfunkanbieter macht dabei nur einen Teil der Kaufentscheidung aus. Viel stärker fallen hier bei der Entscheidung wohl noch andere Punkte ins Gewicht, z. B. die Unsicherheit, ob die Qualität der Dienstleistung nun wirklich besser oder die Netzabdeckung umfassender sei als bei der Konkurrenz. Sind wir hier nicht sicher, gehen wir das Risiko eines Wechsels zu einem anderen Anbieter nicht ein.
Wie kann ich Kaufentscheidungen beeinflussen?
Marketing umfasst nicht nur das gute Angebot im Abverkauf, sondern sollte zum Ziel haben, Konsumenten bei Recherche und Evaluation die passenden Informationen zu vermitteln.
Im Zustand der Recherche
Im Zustand der Recherche ist es wichtig, sich in die Konsumentin oder den Konsumenten einzufühlen und sich zu fragen, welche Bedürfnisse gestillt oder welche Fragen beantwortet werden sollen. Passend ist dabei z. B. ein Blogbeitrag, der darauf eingeht, worauf bei der Auswahl des richtigen Produkts zu achten ist. Um mit Volkswagen weiterzufahren: In dieser Phase gehen Inhalte heute auf die Vorteile der Elektromobilität ein und beantworten Fragen zu Kosten, Reichweite und Lademöglichkeiten. Dabei interessiert noch nicht die Botschaft, dass Volkswagen dies allenfalls am besten anbietet, sondern es sollte eine objektive Beschreibung der Vor- und Nachteile von Elektromobilität sein.
Zudem hilft es schon, bei der Suche nach Inhalten mit einer Werbeanzeige oder einem passenden Suchresultat präsent zu sein. Dies war eine der Erkenntnisse der erwähnten Google-Studie. Bei der Suche nach Elektromobilität ist es für alle Anbieter wichtig, in Suchmaschinen mit Anzeigen oder passenden Suchresultaten zu erscheinen.
Im Zustand der Evaluation
Im Zustand der Evaluation helfen gute Testresultate von anerkannten Experten oder gute Bewertungen von bestehenden Kunden. Um dies zu erreichen, braucht es Geduld und eine rundum gute Qualität in allen Bereichen eines Unternehmens: Gute Testresultate von Experten gibt es nur, wenn das Produkt wirklich gut ist. Gute Bewertungen von Kunden kommen nur, wenn die Kauferfahrung, der Service nach dem Kauf oder das Kosten-Nutzen-Verhältnis überdurchschnittlich ist und wenn ein Dialog zwischen Kunden und Unternehmen stattfindet.

Krisenresistente Marke Volkswagen
Qualität und positive Erfahrungen mit der Marke halfen Volkswagen über den Abgasskandal hinweg. Was schon beim VW Käfer hervorgehoben wurde, nämlich dass der VW läuft und läuft und läuft, gilt in der Sicht der Kundschaft für alle VW-Modelle. VW wurde in der Reader’s Digest-Studie «Trusted Brands» von 2016 bis 2021 zur vertrauensvollsten deutschen Marke gewählt, trotz Abgasskandal. In der Schweizer Ausgabe der Studie wurde VW 2021 nach langer Zeit von Audi an der Spitze abgelöst. Bei beiden Studien wurden 4000 Menschen ab 18 Jahren nach ihren bevorzugten Marken in 20 Branchen gefragt.
Warum geniesst Volkswagen ein derart hohes Vertrauen? Dialego, die durchführende Agentur der «Trusted Brands»-Studie erklärt dies so: «[Die Erfahrung der Menschen] mit ihrem VW ist – teilweise seit Generationen – positiv. Wer Jahre oder gar Jahrzehnte mit seinem Automobil zufrieden ist, weil es zuverlässig von A nach B kutschiert und die zugehörige Autowerkstatt einen nicht im Stich lässt, der entscheidet nicht so schnell um. Erst recht nicht bei einem langlebigen Produkt wie dem Automobil.» Die Hauptargumente für das Vertrauen in VW bei der Kategorie Automobil sind gemäss Dialego: Erstens, die eigene Erfahrung, zweitens, geprüfte Qualität und drittens, Langlebigkeit des Produktes. Alles in allem Werte, welche Vertrauen stiften.
Der Blick nach vorne
Der aktuelle Fokus auf den Datenschutz von Gesetzgeber und Tech-Firmen wie Apple oder Google wird die Möglichkeiten einschränken, datenbasiert Werbung auszuspielen. Unternehmen müssen sich damit auseinandersetzen, über welche Daten sie verfügen. Doch dies birgt vor allem Chancen. Zum einen werden sie herausfinden, dass bestehenden Kunden anhand der vorhandenen Daten auch nach dem Kauf gute Erfahrungen geboten werden können. Diese Daten sind genauer, sind datenschutzkonform und werden eher von Kunden geteilt, welche einem bereits vertrauen.
Damit können personalisierte Botschaften und Angebote erstellt werden für Kunden, die man kennt. So wie im Quartierladen, wo der Besitzer im besten Fall die Vorlieben seiner Kundschaft kennt. Bestehende Kunden sind empfänglicher für personalisierte Angebote, welche auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind, und fühlen sich ernst genommen. Was im besten Fall passiert, ist ein Dialog auf Augenhöhe. Es bildet sich eine Symbiose zwischen Kundschaft und Unternehmen – eine Win-win-Situation.
Fazit
Die gute Nachricht lautet: Es gibt Möglichkeiten, Kaufentscheidungen durch passende Inhalte und Präsenz im richtigen Moment zu beeinflussen. Doch es braucht im Marketing ein Umdenken. Der Fokus im Marketing liegt bei vielen Unternehmen hauptsächlich auf der Neukundengewinnung. Nach dem Kauf fallen diese häufig aus der Betrachtung heraus und werden danach mit viel weniger Anstrengungen bei Laune gehalten.
Dabei sind einmalige Käufer noch keine Kunden. Erst nach mehrfachen Transaktionen, also einem höheren Customer Lifetime Value, werden Käufer und Käuferinnen zu Kunden und Kundinnen. Neue Kunden zu gewinnen ist anstrengender und teurer, als bestehende Kunden zu halten. Trotzdem macht die bestehende Kundschaft häufig den grössten Teil des Umsatzes eines Unternehmens aus. Also genug Gründe dafür, der bestehenden Kundschaft mehr Aufmerksamkeit zu schenken.